Montag, 2. April 2007

Die alte Frau Lavigne

Die alte Frau Lavigne kam mit ihrer Rente hinten wie vorne nicht hin. Darum hatte sie vor einiger Zeit eine Putzstelle angenommen.
Es war nicht einfach, aber es ging. Abends tat ihr vom vielen Bücken meist der Rücken weh. Der Schrubber war leider nicht in der Höhe verstellbar, und so hing Frau Lavigne oft wie ein Affe auf dem Schleifstein oder wie Axel Stein beim Rollhockey über dem Besen.
Doch was tat man nicht alles für die paar Kröten? Die Zeiten waren nicht leicht für alleinstehende Rentnerinnen.
Und ihr Wellensittich, der Hansi, war ihr da auch keine große Hilfe, denn der weigerte sich standhaft, Zeitungen auszutragen und dadurch ein bißchen Geld zu verdienen, um etwas zum gemeinsamen Haushaltskonto beizusteuern.
Die Lavigne hatte ihn aber trotzdem lieb, den sturen Piepmatz.
Eines Samstagmorgens begab es sich nun, daß es bei der alten Frau Lavigne an der Tür klingelte.
Nanu, wunderte sie sich, denn sonst klingelte nie einer bei ihr, und sie war auch schon total vereinsamt über die Jahre, wer mag das wohl sein? Sie betätigte den Türöffner und lauschte in den Hausflur hinein.
Fünf Stockwerke tiefer, denn Frau Lavigne wohnte in ihrem unsanierten Altbau ganz oben unterm Dach, hörte sie eine vertrauenserweckende Stimme rufen: Pooohooost!!
Post? Für mich? wunderte sich die Lavigne nun noch umso mehr, wer mag mir denn da wohl geschrieben haben? Ihr lang verschollen geglaubter Sohn Manfred etwa, der sich zuletzt als Missionar in Papiertiger-Guinea verdingt hatte? Der ließ doch sonst nichts von sich hören.
Aber vielleicht hatte er ja in den letzten zwanzig Jahren ein total schlechtes Gewissen bekommen und wollte nun seiner Mama schreiben, wie leid ihm das alles täte. Ja, das könnte es sein.
Also streifte die alte Frau Lavigne schnell ihre Holzschuhe über und rauschte mit einem Affenzahn die fünf Stockwerke runter zum Briefkasten. Affenzahn ist in diesem Zusammenhang nur sinnbildlich zu verstehen, denn ganz so affig ging es mit Mitte 80 nun auch bei ihr nicht mehr zu. Aber für ihre Verhältnisse war sie an diesem Morgen schon noch gut beieinander.
Völlig außer Atem und kurz vor dem Herzklabuster stehend, erreichte sie das Erdgeschoß und stürmte dem dort herumlungernden Briefträger entgegen, der lässig an die Hauswand gelehnt war und vergnüglich ein Zigarettchen rauchte.
Als ihn die alte Frau Lavigne erwartungsvoll ansah und voll der Freude ihre Post entgegennehmen wollte, lachte sich der Briefträger nur grün und blau und scheckig und rief: Avril! Avril!
Die Post ist mittlerweile auch nicht mehr das, was sie mal war.

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