Samstag, 11. August 2007

Mandy

Sie sah ein bißchen aus wie Avril Lavigne, nur nicht so stolz, sondern vielmehr angenehm schüchtern. Am Anfang mochte ich ihre wohltuende Ruhe. Sie war nicht so hysterisch und aufgedreht wie die anderen Mädels, mit denen ich mich zu dieser Zeit sonst so verabredete.
Ihr Therapeut, so eröffnete sie mir, hatte ihr gesagt, es wäre jetzt langsam an der Zeit, endlich Männer zu treffen. Ich war einer der ersten, der auf ihre leicht kryptische Kontaktanzeige reagiert hatte.
Es war im September. Wir hatten verabredet, auf das Oktoberfest zu gehen. Ich war da. Nur Mandy kam nicht.
Zwei Tage später rief sie an, sie klang sehr verlegen und entschuldigte sich bei mir. Sie erklärte, es hätte sie im letzten Moment der Mut verlassen, die ganzen fremden Menschen und all das. Da hätte sie auf einmal totale Beklemmungen bekommen.
Na, macht ja nichts.
Ein paar Tage später dann unser zweiter Versuch, ein Spaziergang entlang der Isar. Diesmal klappte es. Der Himmel war grau, doch es blieb trocken.
An einer entlegenen Stelle sagte sie mir: Ich mag die Einsamkeit. Auch die Natur finde ich sehr schön, obwohl sie grausam ist, manchmal. Es sind die Leute, mit denen ich nicht zurechtkomme.
Zwischen unsere wenigen Sätze schoben sich immer wieder lange Pausen, oft auch minutenlanges betretenes Schweigen.
In der Nähe der Großhesseloher Brücke meinte sie dann: Da wollte ich auch mal runterspringen.
Fünf Stunden waren wir an diesem Tag zusammen, Zeit genug für sie, mir ihre ganze traurige Lebensgeschichte zu erzählen.
Schon als Kind hatte sie kaum Anschluß gefunden, sie war nach der Schule oft allein zuhaus, Schlüsselkind, malte viel oder las.
Als Teenager war sie dann vom besten Freund ihres Vaters vergewaltigt worden. Anfangs war er sehr nett zu ihr gewesen, aufmerksam auch, hatte sie ausgeführt, wie eine Erwachsene behandelt. Das fand sie schön, diese Beachtung, das kannte sie vorher nicht.
Nach ein paar Wochen begannen seine ersten Annäherungsversuche. Er fing damit an, sie immer öfter zu bedrängen, wollte sie küssen und mehr. Sie wollte das alles nicht, doch traf sich weiterhin mit ihm. Auf dem Heimweg, nach einem gemeinsam besuchten Orgelkonzert, geschah es dann.
Etwas in ihr zerbrach. Sie konnte sich keinem anvertrauen. Es folgten ein paar halbherzige Selbstmordversuche.
Die erste Diagnose: Depression. Danach hieß es: Borderline-Syndrom. Die Eltern schleppten sie weiter von Arzt zu Arzt, irgendwann stellte einer fest: Soziale Phobie.
Manchmal wüßte sie einfach nicht mehr weiter, das Leben hätte sie so müde gemacht. Unzählige Therapien. Ein abgebrochenes Kunststudium. Und jetzt sie und ich, hier an der Isar.
Eine Woche nach unserem Spaziergang wurde sie in die Psychiatrie eingewiesen, weil sie sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, nicht zum ersten Mal.
Ich wollte sie besuchen, weil ich mich irgendwie verantwortlich für sie fühlte. Die Ärzte ließen mich nicht zu ihr. Ich sei ja kein Verwandter.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Solche Anekdoten finde ich immer traurig. Und leider scheint es allzu oft so und nicht anders zu laufen.
Anderseits schätze ich, dass Leuten wie "Mandy" nur von langjährigen Freunden oder loyalen Familienmitgliedern geholfen werden kann.